Global Ghetto Tech, Tropical Bass und Weltmusik 2.0
Von Uh-Young Kim

Jedes Jahr am Pfingswochenende ziehen bunte Festwagen, Rhythmusgruppen und Soundsystems durch die Straßen von Kreuzberg. Der Karneval der Kulturen in Berlin ist die wichtigste Weltmusikveranstaltung in Deutschland. Seit den Nullerjahren halten musikalische Einflüsse aus der Karibik, Afrika, dem Balkan oder Lateinamerika auch verstärkt Einzug in die Clubs. Dabei hielten sich die Klischees der Weltmusik hier lange Zeit hartnäckig, wie etwa der barfuß tanzende Globetrotter mit Aussteiger-Sehnsucht, der sich traditionellen Klängen aus Dritt-Welt-Ländern voll Echtheit und Natur hingibt.

Die neue Weltmusik ist alles andere als das. Sie ist dreckig, urban, grenzüberschreitend, global vernetzt, digital produziert und bastardisiert ohne Rücksicht auf Reinheitsgebote, Authentizität und die Unterscheidung zwischen Pop-Zentren und Peripherien. Die Globalisierung regionaler Rhythmen hat durch das Internet zu einer Explosion der Vielfalt in der Dance Music geführt. Produziert wird nicht mehr nur noch in den Zentren des Nordens, sondern vermehrt in Johannesburg, Buenos Aires oder Budapest. Alleine in der nordmexikanischen Stadt Monterrey sind um den Produzenten Toy Selectah in den letzten Jahren gleich drei neue Subgenres entstanden: Cumbia Rebajada, Huichol Musical und Tribal Guarachero, die die traditonelle Musik Lateinamerikas mit Synthiemelodien und elektronischen Beats kurzschließen.

Weitgehend unbemerkt von Popmagazinen und Tageszeitungen spuckt die Global Dance Music munter einen frischen Stilhybriden nach dem anderen aus: Tecnobrega aus dem Norden Brasiliens, Kwaito von südafrikanischen Szenestars wie DJ Mujava und Professor, oder neuerdings Moombahton. Die Akteure kommen aus den Inner Cities, Townships und Dancehalls am Äquator - mit Standleitung zu Multiplikatoren in den Metropolen Europas und Nordamerikas. Blogs wie Ghetto Bassquake oder Dutty Artz berichten die Neuigkeiten. Sharehoster-Seiten sind zum Gratis-Marktplatz der digitalen Folklore geworden. Was für Musiker aus dem Westen das Ende der fetten Jahre bedeutet, markiert für bisher marginalisierte Künstler die Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Einen festen Namen hat die lose Szene nicht. Der Begriff Global Ghetto Tech klingt wie aus einem Cyberpunk-Roman. Tropical Bass offenbart das schmerzfreie Verhältnis vieler junger Produzenten zu ehemals verpönten Exotismen aus der klassischen Weltmusik und verweist gleichzeitig auf die Genese aus der transatlantischen Bassmusik. Weltmusik 2.0 wiederum markiert den digitalen Sound vor allem als Folge der technologischen Entwicklung durch das Internet. Die Mitmachbewegung überschreitet die Idee der analogen Weltmusik aus den 80ern bei weitem - und knüpft doch an ihre Anfänge und Ränder an. Denn nicht erst seit den Nullerjahren bringt die Migration von Sounds das Neue in die Welt, ziehen Klänge aus der Südhalbkugel die Hipster der Popkultur an.

Als Pioniere der Weltmusik können insofern die Jazzgiganten Yusef Lateef, John Coltrane und später Pharoah Sanders angesehen werden. Sie griffen seit den 50ern Einflüsse aus Nordafrika, Indien und Brasilien auf, um den Jazz zu erneuern - so wie DJs und Producer heute die Dance Music durch ihren Blick über den angloamerikanischen Tellerrand neu beleben. In den 80ern verflechteten David Byrne und Brian Eno (und vor ihnen bereits Holger Czukay) uralte Rituale mit hochmodernen Technologien: Postpunk und Funkgrooves clashten mit Afrobeat und arabischen Sängern. Byrne und Eno nahmen durch den Einsatz von found objects und fieldrecordings die bevorstehenden Umwälzungen durch den Sampler vorweg.

Programmatisch für den transkulturellen Clash im Zeichen der Samplekultur war der Coldcut-Remix von “Paid In Full” für Eric B. & Rakim aus dem Jahre 1987 mit seiner Kombination aus Rap, Breakbeats und orientalischem Gesang von Ofra Haza. Im Londoner Stadtteil Brixton, dem britischen Zentrum der karibischen Einwanderung, fusionierten auf diese Weise erstmals elektronische Beats mit Riddims aus der jamaikanischen Soundsystemkultur im Sampler. Die Kinder der karibischen und afrikanischen Migranten fanden im daraus entstandenen Soundkontinuum aus Hardcore, Jungle, Drum and Bass, Garage, Grime und Dubstep eine ideelle Heimat. Die 2. Generation der indisch-pakistanischen Gemeinde entwickelte mit dem reggae-infizierten Banghra ebenfalls ihre eigene Ausdrucksform für das hybride Leben im Vereinten Königreich. Deutschland steht bei dieser postkolonialen Dynamik außen vor. Vergleichbares lässt sich hier nur in der Entstehung der Balkan Beats beobachten. Ihr prominentester Vertreter ist bis heute Shantel, der mit osteuropäischen Wurzeln aufwuchs und aus der elektronischen Clubszene stammt.

Waren Entwürfe einer transkulturellen Musik in den Neunzigern insgesamt noch stark vom Community-Gedanken geprägt, geht es heute nicht mehr um ethnische Authentizität. Multiethnizität ist längst ein normaler und grundlegender Bestandteil der Gesellschaft geworden. So verwendet die Dubstep-Ausnahmefigur Shackleton ganz unbefangen Spuren arabesker Volksmusiken in seinen apokalyptischen Subbass-Tracks. Zu seinen Vorbildern zählt er den türkischen Sazspieler Erkan Ogur und Nusrat Fateh Ali Khan aus Pakistan. Diese traditionellen Musiker wurden in einer Zeit bekannt, als Anhänger der Weltmusik es als ihre Mission betrachteten, originale Klänge aus fernen Ländern in westliche Konzertsäle zu bringen, sie zu bewahren und ihre Künstler zu integrieren. Musik diente hierbei als Weltsprache, ein Medium, durch das fremde Regionen entdeckt werden konnten.

Seit das Internet zur Botschaft geworden ist, hat sich die damals formulierte Idee von einem "planetaren Bewusstsein" durch das Medium Weltmusik überholt - und ist andererseits exponentiell gewachsen. Wesentliche Merkmale der analogen Kultur - Knappheit, Entfernungen, Verzögerungen - sind der sofortigen und permanenten Verfügbarkeit im Netz gewichen. Das Interesse an Ursprüngen ist von einer Feier des großen Nebeneinanders abgelöst worden. Befreit von national kodierten Verbindlichkeiten können sich Klänge nun als pure Materialitäten entfalten, ohne Stereotypen der Ferne und des Fremden hervorzurufen. Sie werden aber auch flüchtiger. Das gesamte Musikarchiv des Planeten steht per Mausclick zur Verfügung, ihre Inhalte sind ständig von Marginalisierung bedroht. Musiker werden in der digitalen Welt zu Archäologen, die nach Verlorenem suchen. Im Falle des New Yorker Produzenten Uproot Andy ist der Name Programm: er lässt fokloristische Stile wie Bachata und Cumbia neu aufsprießen und kombiniert sie mit clubtauglichen Beats.

Das Label Crammed Discs wiederum hat mit seiner Congotronics-Serie bisher Verborgenes aufgespürt. Gruppen wie Konono No. 1 und Staff Benda Billili aus Kinshasa spielen an selbstgebastelten Instrumenten wie dem elektrisch verstärkten Daumenklavier Likembé hypnotische Grooves. Und auch der Mainstream hat den tropischen Underground entdeckt. So schreibt Popsängerin Beyoncé die Liaison zwischen Global Ghetto Tech und US-Pop seit dem Erfolg der tamilisch-britischen Sängerin M.I.A. fort, indem sie die inoffizielle Hymne der Bewegung sampelt: "Pon De Floor", eine Beat-Attacke mit Einflüssen aus Dancehall Reggae, Baltimore Club und Kuduro. Produziert hat den Track Major Lazer, das Projekt von Wesley Pentz, der als Diplo zu den bekanntesten Vertretern der Global Dance Music zählt.

Auf Diplos Label Mad Decent ist im Frühjahr 2011 die erste Moombahton-Compilation erschienen. Der jüngste Sproß der Weltmusik 2.0 ist ein postgeographischer und posthistorischer Superhybrid, wie er nur in der iPod-Ära entstehen konnte. Moombahton löst gerade Cumbia Digital als anschlussfähiges Genre aus dem Süden ab. Eine Mischung aus Reggaeton und Dutch House: gerade Midtempo-Grooves mit dicken Kicks, verstrahlten Electro-Stabs, euphorisierenden Soundrampen – und in jede Richtung erweiterbar, sei es Soul, Dubstep oder Metal. Moombahton ist durch Zufall in Washington DC entstanden: DJ Dave Nada schraubte das Tempo von House-Tracks runter, als er für Reggaeton-Fans spielen musste. Zur Blüte aber ist der Sound auf den Datenautobahnen zwischen der Ostküste der USA und den Niederlanden gekommen. Nada tauschte Remixe mit Sabo aus New York und dem Rotterdamer Munchi aus, einem 22-jährigen Produzenten dominikanischer Herkunft. Mittlerweile fluten Boyfriend aus Vilnius, der Pariser Brodinski oder Heartbreak aus Charlotte / North Carolina das Netz mit Edits aus Rap, Reggae und Techno. Anders also als die meisten Genres hat Moombahton eine globale Dimension erreicht, noch bevor der Sound an einem bestimmten Ort groß geworden wäre.

Ebenso unmöglich einer Region zuzuordnen ist das eigenwillige Gemisch aus Cyberfunk, Dancehall und Kwaito von Spoek Mathambo aus Johannesburg. Das Duo Schlachthof Bronx aus München wiederum kokettiert mit bayrischer Feierlaune, um aus dem regionalen Störmanöver heraus unbehelligt kolumbianische Cumbia-Klassiker zu remixen und karibische Soca-Nummern zu bastardisieren. Und dass ebenfalls aus Deutschland das aktuell richtungsweisende Baile-Funk-Album kommt, hätte vor ein paar Jahren nie jemand gedacht. Auf "Rambazamba" holt Daniel Haaksman aus Berlin nicht nur den Partysound aus den Favelas von Rio De Janeiro nach Europa, sondern bringt auch den Balkan mit dem Orient und der Karibik zusammen. Damit ist Haaksman für die Global Dance Music gelungen, was Daft Punk mit ihrem Debütalbum einst für House geschafft haben: ein gültiges Standardwerk der besten Tanzmusik zur Zeit - und diesmal wirklich "Around The World".





Spoek Mathambo, Radical Riddims 2011

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